Auf Entdeckungstour durch ein neues Viertel
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Ehrlich gesagt war das Areal zwischen Georg-Wilhelm-Straße und den S‑Bahngleisen auch für mich als Wilhelmsburgerin ein weißer Fleck auf meiner inneren Landkarte. Also habe ich mich trotz typischem Hamburger Winterschmuddelwetter auf eine Entdeckungstour begeben und mich gefragt, wie dieser Stadtteil eigentlich heißen könnte.
Vom S‑Bahnhof Wilhelmsburg kommend schaue ich zuerst bei Anita Habisch von Mam’s Bistro Bar vorbei. Hier an der Ecke Dratelnstraße zwischen Studentenwohnheim, einem im Bau befindlichen Kindergarten und einer gerade entstehenden Seniorenwohnanlage bietet Anita seit einem Jahr leckeren Kaffee, Mittagstisch, Konzerte und den Studenten ein erweitertes Wohnzimmer.
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Mit den Worten von Anita ist ihr Laden bisher „eingesperrt von Entwicklung, aber das muss ja nicht schlecht sein“. Im Gegenteil: Anita ist hier um den Ort mitzugestalten und ein Teil der Entwicklung zu sein. In dem neu entstehenden Stadtteil fehlen ihr bisher kreative Orte. Denn im Vergleich zum Reiherstiegviertel sind hier die Mieten höher und der Spielraum kleiner. Doch im benachbarten Woodie Lab stellt Angelo Pihera (WIP berichtete in Ausgabe 1 2018 über ihn) seine Bilder und Kunstprojekte aus dieser Raum steht Freischaffenden als Arbeitsplatz und Austauschort für verschiedene Projekte zu Verfügung. Auch eine Kooperation mit Stadtteil Projekten wie dem mit HofaLab (Lest dazu ab Seite 16) sind in Planung – Anita freut sich immer, wenn Projekte auf der Insel sich gegenseitig befruchten und Ideen von innen heraus entstehen.
Anita wünscht sich, dass die imaginären Grenzen zwischen Kirchdorf und Reiherstieg überwunden werden und die einzelnen Viertel weiter zusammenwachsen. Bisher ist das neue Viertel eher ein „Dazwischen“ – scherzhaft schlägt sie deshalb den Namen “Kirchstieg”, also eine Mischung aus Kirchdorf und Reiherstieg vor.
Die Idee die Wilhelmsburger Stadtteile zusammenzuführen ist übrigens alles andere als neu: Schon im Jahr 1903 wurde das Wilhelmsburger Rathaus bewusst zwischen die beiden Viertel gebaut, in der Hoffnung, dass sich drum herum eine verbindende Mitte bilden würde. Bisher ist das nicht gelungen, aber die Verlegung der Reichsstraße, die beiden neuen Quartiere “Neue Wilhelmsburger Mitte” (zwischen Wilhelmsburger Reichsstraße und Bahnstraße) und das in Planung befindliche “Wilhelmsburger Rathausviertel” (zwischen Rathauswettern, Dratelnstraße, Rothenhäuser Straße und Neuenfelder Straße) bieten sicherlich eine Chance dafür. Daher wird das Wilhelmsburger Rathausviertel bewusst als Scharnier geplant, das die Stadtteile miteinander verbinden soll.
Als ich weiter an der Dratelnstraße entlang spaziere, ist mein erster Eindruck: „Oha, ganz schön grau“. Baustellen, viele Gewerbeflächen und Speditionen reihen sich aneinander, dazwischen eine Lackfabrik und neben einer Autowaschstraße, fast etwas verloren ein Wohnhaus. Überall arbeiten fleißige Bauarbeiter, die sich auch von Wind und Wetter nicht beirren lassen. Einer von ihnen erzählt mir freundlich, dass hier im neuen Wilhelmsburger Rathausviertel in den kommenden Jahren auf 32 ha rund 1.300 neue Wohneinheiten entstehen sollen. Beim Anblick der feuchten Wiesen fehlt mir noch die Fantasie, um mir genauer vorzustellen, wie das einmal aussehen wird.
Doch in der Jaffestraße gleich um die Ecke gibt es schon jetzt viel zu entdecken. Wer sich wohl hinter dem wabenförmigen „Beesharing“-Schild in dem alten Palmin-Fettwerk verbirgt? Otmar Trenk, Gründer von Beesharing hat mit erzählt, dass er und sein Team von hier eine Plattform für Imker, Landwirte und Bienenfreunde aufgebaut haben, um die Bestäubung unserer regionalen Lebensmittel durch Bienen sicherzustellen. Außerdem haben sie eine eigene Honigmarke gegründet, um das leckere Produkt zu fairen Preisen auf dem Honiggroßhandel zu vermarkten. Als wir darauf zu sprechen kommen, wie die Wahl auf das großzügige Büro mit Fabrikcharme, hohen Decken und toller Arbeitsatmosphäre gefallen sei, gerät Otmar ins Schwärmen. Er habe sich gleich in den Ort verliebt. Als er vor einigen Jahren begann zu gründen, lockten ihn günstige Mietpreise auf die Elbinsel, und als er nach einem neuen Standort Ausschau hielt, war für ihn klar, dass er hierbleiben will: „Ich wollte gerne dem Viertel was zurückgeben. Außerdem finden junge Unternehmen hier günstige Bedingungen vor und ich fühl mich hier einfach zu Hause“. An diesem Eckchen von Wilhelmsburg liebt er besonders die Puhsthöfe mit Terrassen, die zum Verweilen einladen und die lauschigen Stege am Jaffe-Davids-Kanal, die atemberaubende Blicke auf Sonnenauf- und Untergänge bieten.
Gleich nebenan brauen seit Ende 2018 die Jungs von Wildwuchs ihre erfrischend unkonventionellen Bio-Biere. Und nur ein paar Schritte weiter gibt es einen Hauch Portugal. Beim portugiesischen Supermarkt SUL Portugal Import kann man einen leckeren Galao schlürfen – und sich ganz nebenbei vor dem Hamburger Nieselregen in Sicherheit bringen. Und auf mal: Moderne Architektur am Wasser – beim Anblick der Docks von Jaffe 12 fühle ich mich glatt an die Hafencity erinnert. Neben vielen Büros ist hier auch das Restaurant „Hansekai“ versteckt. Beim Blick von der Terrasse auf den still daliegenden Jaffe-Davids-Kanal kommen auch bei mir Erinnerungen an einen Tretboot-Ausflug im letzten Jahr hoch. Ein idealer Platz, um bei Sonnenschein die vorbeiziehenden Enten und Wassersportler zu beobachten oder einfach die Seele baumeln zu lassen. Idylle mitten in der Stadt.
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Am Ende meiner kleinen Entdeckungstour kann ich sagen: Das Viertel ist spannend, es gibt viel zu entdecken und ich bin gespannt, wie es sich in den kommenden Jahren verändert und weiterentwickelt. Es lohnt sich auf jeden Fall jetzt schon einige der versteckten Orte zu besuchen.
Was aber ist ein passender Name für das neue entstehende Viertel?
Mein erster Gedanke war Jaffe-Viertel, denn der Jaffe-Davids-Kanal macht diesen Ort für mich aus. Doch dann erinnere ich mich an mein Gespräch mit Anita und ihre Überlegung, dass es jetzt eigentlich noch zu früh für einen Namen sei, denn bisher sei der Stadtteil „noch ein Baby, das noch nicht alt genug ist, um ein eigenes Gesicht entwickelt zu haben“. Und auch Otmars Vorschlag das Viertel einfach Willy Town zu nennen, um das Gefühl von Zusammengehörigkeit zwischen den unterschiedlichen Stadtteilen auf der Elbinsel zu erhöhen, scheint mit einleuchtend. Denn wäre es nicht schön, wenn wir Elbinsulaner uns einfach als eine große Gemeinschaft wahrnehmen und zusammenleben würden, anstatt uns in einzelne Viertel zurückzuziehen? Denn das macht den Reiz von Wilhelmsburg doch aus, egal wie der neue Stadtteil heißt!
Schmunzelnd erzählte Anita, selbst Insulanerin von der ostfriesischen Nordseeinsel Norderney, dass sie zu einem Freund auf der benachbarten Insel Juist immer gesagt habe: „Der schönste Platz auf Juist ist doch der, von dem aus man die Heimatinsel Norderney sehen kann“. Die Moral von der Geschicht? Jeder der ganz eigenen Wilhelmsburger Stadtteile kann und soll seine Identität behalten, die Hauptsache ist doch, dass man ab und zu zusammenkommt und ein Bierchen gemeinsam trinkt. – Auf Wilhelmsburg! 🙂