Ein Aufschrei ging durch die Veddel!

Foto: Minire und Leta- die beiden guten Bücher-Feen.
Foto: Minire und Leta- die beiden guten Bücher-Feen.

Wilhelmsburg/Veddel. Nein es war nicht ein Jubel-Schrei über die Been­di­gung der Coro­na-Pan­de­mie, nicht über die nun wie­der­ge­won­ne­ne Frei­heit mit der Mög­lich­keit des wie­der Luft­schnap­pens und auch nicht über die Mög­lich­keit des sich wie­der frei unter­hal­ten kön­nens. Es war auch nicht ein Auf­schrei aus Kin­der­mün­dern, die nun end­lich wie­der die Spiel­plät­ze nut­zen konnten.

Nein, der Auf­schrei kam aus dem Imma­nu­el­stieg 5, von „Ved­del aktiv e.V.“ und zwar mit einer Pres­se­mit­tei­lung an die Öffent­lich­keit von Dr. Fran­ci­ne Lammar als Geschäfts­füh­re­rin und Eva Düch­t­ing als 1. Vor­sit­zen­de im Auf­sichts­rat. Sie gaben die Auf­for­de­rung der Schul­be­hör­de bekannt, dass die Ved­de­ler Bücher­hal­le (gehört seit 2009 zu „Ved­del aktiv e.V.“) aus den Räum­lich­kei­ten der Schu­le zum 31.07.20 zu ver­schwin­den habe.

Für alle die nun Inter­es­se an der Ved­de­ler Bücher­hal­le und deren ange­kün­dig­tem Raus­wurf Inter­es­se haben, kann ich behilf­lich sein mit den fol­gen­den Hin­wei­sen und Statements.

Historie

Die Bücherhalle Ved­del 1937 nach ihrer Eröffnung.

Die Ved­de­ler Bücher­hal­le, inte­griert (nach den Plä­nen von Fritz Schu­ma­cher) in das Gebäu­de der „Schu­le auf der Ved­del“ (mit sepa­ra­tem Ein­gang) ist wohl die his­to­rischs­te in ganz Deutsch­land. Hier wur­de 1937 das ers­te Mal das Frei­hand-Prin­zip in einem Arbei­ter­vier­tel ein­ge­führt, d.h. das Publi­kum (sei­en es Erwach­se­ne oder Kin­der) konn­te sich ihr Wunsch Buch selbst aus den Rega­len aus­su­chen und dann am Tre­sen vom Per­so­nal zur Aus­hän­di­gung ein­tra­gen las­sen. Bis dato war bei allen Öffent­li­chen Bücher­hal­len nur die Tre­sen- bzw. The­ken-Metho­de üblich, bei der das Per­so­nal die Buchent­lei­her beriet und die Biblio­the­ka­rin das ihrer Mei­nung geeig­nets­te Buch für den Kun­den dann aus­such­te und aushändigte.
Die­se neue Bücher­hal­le jedoch war auch licht­durch­flu­tet und freund­lich und nicht in einem mie­fi­gen Zustand, wie man es bei ande­ren Ein­rich­tun­gen sonst gewohnt war; welch ein Wun­der, schließ­lich war Ham­burg die Stadt mit den ältes­ten Bücher­ein­rich­tun­gen überhaupt.
Zwar hat­te man anfäng­lich Beden­ken, ob ein Arbei­ter bzw. sei­ne Kin­der über­haupt in der Lage wären, ein für sie adäqua­tes Buch selbst aus­su­chen zu kön­nen. Doch war man nach rela­tiv kur­zer Zeit der Eröff­nung sehr über­rascht, wie die­ses neue Sys­tem bei der Bevöl­ke­rung regen Zuspruch fand, sodass man es als gro­ßen Erfolg wer­ten konn­te. Dar­auf­hin hat man die­ses neue Prin­zip sogleich auf alle ande­ren Ham­bur­ger Bücher­hal­len über­tra­gen, was schließ­lich peu à peu in ganz Deutsch­land sei­ne Ver­brei­tung fand.

1938 wur­de einer jun­gen Biblio­the­ka­rin (25-jäh­rig) für die Ved­de­ler Bücher­hal­le die Lei­tung ange­bo­ten. Sie hat­te in ihrem Wunsch­be­ruf bis­her sehr enga­giert in ande­ren Ein­rich­tun­gen gear­bei­tet und hat natür­lich sofort zuge­schla­gen. Damit war sie die jüngs­te Lei­te­rin in Ham­burg und mit Sicher­heit auch in ganz Deutsch­land. Die­se jun­ge Frau Ger­trud Rosen­baum hat­te die Stel­le auf der Ved­del bis nach dem 2. Welt­krieg inne­ge­habt, bevor sie 1946 eine Bücher­hal­le in Win­ter­hu­de über­nahm. Eines ihrer gro­ßen Ver­diens­te war es, so viel wie mög­lich von der Nazi-Pro­pa­gan­da-Lek­tü­re bei­sei­te zu schaf­fen, ohne in die Fän­ge des Sys­tems zu geraten.

1996 wur­den ihre Erin­ne­run­gen als Buch her­aus­ge­ge­ben unter dem Titel „Gefähr­li­che Balan­ce“ (nun unter dem Namen Ger­trud Sey­del­mann). In die­sem Buch schreibt sie sehr per­sön­li­che Din­ge über sich und ihr Leben, schreibt jedoch auch sehr aus­führ­lich über ihre Zeit auf der Ved­del (inklu­si­ve Schlin­ger­kurs an den Nazis vor­bei). Und sie schwärmt über den Fleiß der Ved­de­ler Arbei­ter­schaft und der guten Erzie­hung, die sie ihren Kin­dern ange­dei­hen ließ. Spe­zi­ell hebt sie hier­bei die Fami­lie Söl­ter als posi­ti­ves Bei­spiel her­vor. Über die­se Zeit der Ved­de­ler Bücher­hal­le von damals berich­tet aber deren Sohn Die­ter Söl­ter am bes­ten selbst (von ihm stam­men die his­to­ri­schen Dar­stel­lun­gen inkl. besag­tem Buch)

Dieter Sölter

Die­ter Sölter mit einem Foto sei­ner Eltern und dem Buch ‑Gefährliche Balance.

“Ich konn­te es gar nicht fas­sen, als ich von der ange­ord­ne­ten Schlie­ßung der Ved­de­ler Bücher­hal­le erfuhr. Die Bücher­hal­le präg­te bis­her das Leben der Ved­de­ler Bevöl­ke­rung und spe­zi­ell das Leben unse­rer Fami­lie. Ich wuchs qua­si in der Bücher­hal­le auf.“

Renate Reich

Rena­te Reich, ehe­ma­li­ge Schul­lei­te­rin der Schu­le auf der Veddel.

“1996, ich war noch frisch in der Schul­lei­tung, kam die Nach­richt: Schlie­ßung der Bücher­hal­le! Das war für die Schu­le ein Schock. Die Benut­zung der Bücher­hal­le mit der Ein­bin­dung in den Unter­richt war so wert­voll – das soll­te vor­bei sein? Unmög­lich! (Anmer­kung: Das war der ers­te Ver­such einer Schließung)

Dr. Fran­ci­ne Lammar hat­te gera­de die Geschäfts­füh­rung von Ved­del-aktiv übernommen.Wir taten uns zusam­men und baten bei­de um ein Gespräch mit der Lei­tung der Öffent­li­chen Bücher­hal­len. Und das war sehr konstruktiv.

Ja, die Schlie­ßung bedau­er­ten sie auch. Aber die Aus­leih­zah­len recht­fer­tig­ten die Per­so­nal­kos­ten nicht. Sie wären ger­ne bereit, uns mit Büchern zu ver­sor­gen. Aber die Per­so­nal­kos­ten müss­ten wir selbst über­neh­men. Wie das? Wir einig­ten uns auf zwei Säu­len: Zum einen durch Spen­den, zum ande­ren durch Erhö­hung der Bei­trä­ge für den Schul­ver­ein um 100%, jedoch auf frei­wil­li­ger Basis. Ich infor­mier­te alle Eltern­ver­tre­ter, und die infor­mier­ten die Eltern bei den Elternabenden.

Ich war über­wäl­tigt- Nicht ein Vater, nicht eine Mut­ter hat die Erhö­hung ver­wei­gert. Dabei zählt und zähl­te auf der Ved­del jede Mark (heu­te Euro). Aber die Bücher­hal­le war allen so wich­tig, dass sie dafür zah­len woll­ten. Eine noble Ges­te, die zeigt, wie wich­tig die Bücher­hal­le für die Ved­del ist. Die Anfangs­zeit war zwar etwas hol­pe­rig, denn wie führt man eine Bücher­hal­le? Wel­che Fähig­kei­ten muss die Lei­te­rin haben? Aber wir haben es geschafft, und als ich 2001 wegen eines Umzu­ges fort­ging, war sie auf Expan­si­ons­kurs. Und das soll nun alles vor­bei sein?

Pastor Steffen Kühnelt

Als Pas­tor und Vater in der Stadt­teil­bü­che­rei Veddel:

Pas­tor und Vater in der Stadtteilbücherei Ved­del- Stef­fen Kühnelt.

„Mit der Stadt­teil­bü­che­rei hat­te ich bereits seit mei­nem Amts­be­ginn als Pas­tor auf der Ved­del im Jahr 2001 sehr posi­ti­ve Erfah­run­gen gemacht. Die Kin­der aus der Evan­ge­li­schen Kita nutz­ten sie regel­mä­ßig und ich war beein­druckt vom Enga­ge­ment der Mit­ar­bei­ten­den und der Leben­dig­keit des Ortes. Als ich dann jedoch eini­ge Jah­re spä­ter selbst zwei Mal Vater wur­de und mei­ne bei­den Kin­der auf der Ved­del grö­ßer wur­den, habe ich den Schatz, der die Stadt­teil­bü­che­rei für unse­re Insel war und ist, noch ein­mal neu und „am eige­nen Leib“ erlebt. Vor­le­se- und Mit­mach­stun­den für die Kleins­ten (das Pro­gramm hieß: Gedich­te für Wich­te) im Kreis von Kin­dern und Eltern (meis­tens war ich wohl der ein­zi­ge Vater) waren eine groß­ar­ti­ge Erfah­rung. Für die Kin­der und auch für die Erwach­se­nen, für die die Stadt­teil­bü­che­rei nicht nur eine Bil­dungs­ein­rich­tung, son­dern ein Begeg­nungs­ort der Kul­tu­ren und Reli­gio­nen war, der Nach­bar­schaf­ten gestärkt und Freund­schaf­ten ermög­licht hat. Das ist schon eini­ge Zeit her. Die Stadt­teil­bü­che­rei hat sich seit­dem viel­fäl­tig wei­ter­ent­wi­ckelt, aber die­ses Zen­trum für die Men­schen ist sie geblie­ben. Mitt­ler­wei­le bin ich zwar Pas­tor im Ham­bur­ger Wes­ten, der Ved­del aber bin ich im Her­zen ver­bun­den geblie­ben und so seit knapp zwei Jah­ren im Vor­stand von „Ved­del aktiv e.V.“. In die­ser Funk­ti­on set­ze ich mich nun ger­ne für eine gute Zukunft der Stadt­teil­bü­che­rei ein.

Der Schul­be­hör­de scheint es gleich­gül­tig oder nicht bekannt zu sein, dass die Schu­le auf der Ved­del – gera­de durch die Koope­ra­ti­on mit ande­ren Bil­dungs­trä­gern und vie­len Ham­bur­ger Unter­neh­men, schon seit vie­len Jah­ren eine uner­war­tet hohe Zahl von Jugend­li­chen zu qua­li­fi­zier­ten Abschlüs­sen führt und dar­über hin­aus beein­dru­cken­de Erfol­ge bei den Über­gän­gen in eine Berufs­aus­bil­dung vor­wei­sen kann. Durch die Schlie­ßung der Bücher­hal­le wür­de ein wei­te­rer Bau­stein für die­sen Erfolg unwie­der­bring­lich ver­nich­tet werden.

Dabei ist die­ser Kahl­schlag nach mei­nem Kennt­nis­stand kei­nes­wegs erfor­der­lich. Seit vie­len Jah­ren gibt es aus­ge­ar­bei­te­te Um- und Erwei­te­rungs­plä­ne für die Schu­le. Hier­in ist aus gutem Grund die Biblio­thek inte­griert. War­um soll­ten die Argu­men­te für den Erhalt der Bücher­hal­le im Schul­ge­bäu­de nun plötz­lich nicht mehr gelten?

Es spricht nicht gera­de für die inne­re Har­mo­nie der Schul­be­hör­de, wenn bei Nach­fra­ge durch das „Elbe Wochen­blatt“ vom 29.04.20 der Schul­be­hör­den­spre­cher Micha­el Reich­mann behaup­tet, dass die Kün­di­gung der Bücher­hal­len­räu­me von der Ved­de­ler Schu­le aus­geht; er aber dann am nächs­ten Tag zurück­ru­dert mit dem Hin­weis, dass die Behör­de die Kün­di­gung aus­ge­spro­chen hätte.

Falls der Schul­be­hör­den­spre­cher Micha­el Reich­mann sich kon­di­tio­nell ver­bes­sern möch­te, kann er ja mal bei Ulrich vom Ved­de­ler Ruder­club „Wikin­ger“ anfra­gen (sie­he WIP 3/19), ob die ein spe­zi­el­les Trai­nings­pro­gramm für‚s „Zurück­ru­dern“ anbie­ten können.

Tom Buro im Krei­se der Mini-Leseratten.

Akti­vi­tä­ten, die außer­halb der Schul­zeit (schul­frei oder Feri­en) unter der Obhut des Bücher­hal­len­per­so­na­les stattfinden:

Sport und Spie­le auf dem Schul­hof – Kochen – Bas­teln – Spie­len – Aus­flug – Karao­ke – Mäd­chen-Dis­co – Vor­le­sen – Autoren­le­sen – Gedich­te für Wich­te – ange­lei­te­te Akti­vi­tä­ten für Eltern mit ihren Kin­dern – Mini­golf im Schwarz­licht­vier­tel – Kino – Märchenerzählung