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Von Trauerbewältigung, Schlemmerparadies und Hoffnungsträgern
Nennen wir sie Heinz und Adele. Das Adlerpaar fühlt sich im Heuckenlock richtig wohl. In einer riesigen Pappel haben sie einen mächtigen Horst gebaut, der nach einigen Jahren zwei Meter breit, zwei Meter hoch und bis zu 600 kg schwer ist. Ein Adlerpärchen in Wilhelmsburg – das ist schon eine Sensation, zumal das Heuckenlock für ein Naturschutzgebiet mit 3 km Länge nicht gerade groß ist und zudem in einer Großstadt liegt. Benedikt Domin, Adlerexperte im Elbe-Tideauen-zentrum Bunthaus in Moorwerder hat – nicht als einziger – das Geheimnis ihrer Zuneigung zum Heuckenlock gelöst. Es besitzt nämlich nicht nur eine 430 Jahre alte Flatterulme, die allerdings vor einiger Zeit vom Sturmtief Xaver zerstört wurde sondern zusätzlich ein Tideaue-Süßwasserwatt. Alle sechs Stunden schwemmt die Flut das Oberwasser der Elbe in das Heuckenlock-Pril und andere Seitenarme der Süderelbe hinein. Die Ebbe zieht es wieder heraus. Dabei haben sich Flachwasserzonen gebildet. Der mitgebrachte Schlick hat eine kleine Schwelle am Uferrand erzeugt. Die mit hinein geschwemmten Fische, die gern zum Laichen in diese vermeintlich friedlichen Bereiche kommen, werden bei Flut mit Schwung über diese Schwelle getragen werden und können bei Ebbe schlecht zurück!
So ist für Heinz und Adele ein kleines Schlemmerparadies entstanden. Sie gelten übrigens bei Fachleuten als ausgesprochen faule Adler, weil sie am reich gedeckten Tisch vorwiegend bei Ebbe Platz nehmen und weniger bei Flut wenn der Fischfang anstrengend und erst bei wiederholten Versuchen erfolgreich ist. Eifrig schnappen sie sich dann die Fischmahlzeiten. Die Flachwasserzone ermöglicht es ihnen sogar, ein Vorratslager für fischärmere Zeiten anzulegen, das für den Winter extra aufgestockt wird. Auf diese Weise waren sie natürlich motiviert, in unmittelbarer Nachbarschaft ihren Horst in einer hohen Pappel zu bauen. Diese Idylle hielt jahrelang. Die Aufzucht florierte. Bis der 15. April 2014 kam: Das Sturmtief Pepica raste über Hamburg und Wilhelmsburg hinweg. Verzweifelt versuchten die Adler-Eltern ihre beiden Jungen, die noch nicht flügge waren, zu beschützen. Aber gegen die Macht der Natur waren sie hilflos! Mit ohnmächtigem Entsetzen mussten sie mit ansehen, wie der Sturm ihren Nistbaum umstürzte und das Nest mit den Jungen darunter begrub. Tagelang suchten sie vergeblich nach ihren unter dem zerborstenen Baum begrabenen Kindern und der nicht mehr vorhandenen Behausung. Aber schon nach zehn Tagen stürzten sich die auf so grausame Weise kinderlos gewordenen Eltern in den Wiederaufbau eines Horstes in einer benachbarten Pappel, obwohl es für eine Brut jetzt zu spät im Jahr war. Nestbau als Trauerarbeit, einen besseren Vorschlag hätten sie auch im Rahmen einer Partnertherapie nicht bekommen. So konnte Benedikt Domin beobachten, dass das Adlerpaar dem kulinarisch so effektiven Standort doch die Treue hielt.
Er hoffte sehr, dass sich die Adebare im nächsten Winter wieder für diesen Standort entschieden. Würden sie versuchen, Nachwuchs in unmittelbarer Nähe eines so furchtbaren Schicksalsschlages zu erzeugen? Die Ausdauer der langlebigen, bis zu 40 Jahre alten Adler ist bekannt. Das wissen wir aus einer anderen Leidensgeschichte: Die wenig glücklichen Planer der Autobahn 20 in Schleswig-Holstein mussten nach dem einjährigen Planungsverzug, ausgelöst durch das mit 25.000 Exemplaren größte deutsche Fledermaus-Überwinterungsquartier in nahe gelegenen Kalksteinhöhlen, einen weiteren Rückschlag hinnehmen: Ein erst jetzt erkannter, allerdings unbewohnter Adlerhorst stoppte das Voranschreiten der Autobahn erneut. Drei Jahre muss ein verwaister Adlerhorst nach der EU-Vogelschutzrichtlinie erhalten bleiben, ehe die Rückkehr der Bewohner, die auch mit Wechselhorsten arbeiten, ausgeschlossen werden kann. Gegner des Autobahnbaus betrachten die Adler inzwischen als „Hoffnungsträger“. Im Heuckenlock verstrich nicht einmal ein Jahr. Für Interessierte sei gesagt: Da das Naturschutzgebiet Heuckenlock in diesem Bereich gesperrt ist, bietet sich auf der anderen Seite der Süderelbe der Bereich um den Yachtclub Neuland zur Beobachtung des Geschehens an. Und tatsächlich: Im Januar 2015 konnte man die Adler erneut bei der Vervollständigung ihres Nestes beobachten. Als Benedikt Domin durch sein scharfes Glas auch noch erkennen konnte, dass das Ehepaar 6–10 Mal am Tag kopulierte (!), hatte er Gewissheit, dass doch wieder die Aufzucht von jungen Adlern im Heuckenlock fest geplant war. Mit welcher Freude er später den Jungvögeln beim Schlemmen im Ebbe + Flut-Whirlpool zusehen konnte, können wir uns leicht vorstellen. Auch in diesem Jahr sind die Adler bereits gesichtet worden. Ich selbst habe sie von Neuland aus gesehen.
Wir können uns also auf eine neue Generation Seeadler in Wilhelmsburg freuen! Die IBA hat Wilhelmsburg zu einer zukunftsweisenden Entwicklung verholfen. Aber wie schön ist es, zu sehen, dass Europas größte Flussinsel darüber hinaus eigene, unverwechselbare Qualitäten wie eine Seeadlerfamilie besitzt, die dieser Insel – allen Widrigkeiten zum Trotz – und, wenn man so will, als „Hoffnungsträgerin“, die Treue hält.
[infobox title=‚UM NACHDENKLICH MACHEN‘]Der Wilhelmsburger Fotograf Gerhard Brodowski, der seit vielen Jahren aussagekräftige Naturfotografien in mühevoller Arbeit erstellt, ist inzwischen beinhart geworden, wenn es um Störungen der Tierwelt, also auch um die Lebensräume der Seeadler in Wilhelmsburg geht. Ein Schwerpunkt seiner anerkennenswerten Tätigkeit sind inzwischen Fotos, die die Verbrechen an der Umwelt für jeden anschaulich darstellen. Das Foto, das den wahrscheinlich todgeweihten jungen Seeadler beim Fressen von Plastik zeigt (der Magen wird voll, der Seeadler verhungert aber gerade deshalb!), hätte ich hier gern veröffentlicht. Das lehnt er ab. Auf www.brodowski-fotografie.de kann sich der interessierte Leser gleichwohl genauestens informieren.[/infobox]
Das Heuckenlock sollte bitte nicht im gesperrten Bereich betreten werden!
Wahr genommen werden sollten stattdessen die geführten Wanderungen, so z.B. am Ostermontag, den 28. März 2016, eine betreute Familienexkursion des Elbe-Tideauenzentrums Bunthaus. Treffpunkt ist 11:15 Uhr an der Bushaltestelle Heuckenlock. Teilnahmepreis: Erwachsene 3 Euro, Kinder 2 Euro.