Wilhelmsburg/Georgswerder. Obwohl dieser Tage mein zehntes Jahr als Bewohnerin der Veddel beginnt und ich mich häufig im Reiherstiegviertel herumtreibe, bin ich bis jetzt doch selten auf die Idee gekommen, mir mal ein anderes Nachbarquartier genauer anzusehen: Georgswerder.
Erst im letzten Jahr habe ich herausgefunden, dass hinter dem Autohof an der Abfahrt Georgswerder eine versteckte Filiale eines großen Fast Food Restaurants existiert. „Das ist doch neu“, dachte ich mir da, doch weit gefehlt: Das Schnellrestaurant hat es einfach mehrere Jahre geschafft, von mir unentdeckt zu bleiben, obwohl Pommes und Milchshakes nur wenige Minuten Fußweg entfernt sind. Tatsächlich erreicht man nur einige hundert Meter hinter der Ballinstadt bereits die Brücke, die den Ortseingang von Georgswerder kennzeichnet und von da ist es gleich um die Ecke. Eine kleine Horizonterweiterung!
Doch nun soll Schluss sein mit der Planlosigkeit, ich mache mich auf Entdeckungstour durch das bis jetzt von mir vernachlässigte Quartier – diesmal auch abseits der Hauptstraße!
Denn wenn man diese verlässt, fällt einem sofort der dörfliche Charakter des Stadtteils auf. Frühere Anwohner*innen berichten mir, dass es nicht lang her ist, dass hier wirklich alle sich kannten und man sich gegenseitig auf der Straße gegrüßt hat. Trotz der Diversität und Vielfalt im Stadtteil, hat hier ein Klima von Vertrautheit und Offenheit geherrscht. Leider sind viele junge Leute mittlerweile weggezogen, aber sie wünschen sich, dass der Charme und der Charakter der vergangenen Zeit auch in die Pläne für das zukünftige Georgswerder einfließen sollen.
RUHIG IST ES HIER
UND SO SCHÖN GRÜN.
Welche besondere Atmosphäre sie meinen, wird zwischen den vielen Schrebergärten mit den alten Obstbäumen schnell klar. Hier lässt sich vergessen, dass man sich nur rund fünf Kilometer Luftlinie vom Rathaus befindet. Die freundlichen Gärtner*innen sind schnell zu einem kleinen Plausch bereit und erzählen, was ihnen am Stadtteil gefällt. „Ruhig ist es hier und so schön grün.“ In Georgswerder gibt es mehr Schrebergärten als Wohnhäuser, weshalb hier bei schönem Wetter rasch eine gewisse Urlaubsstimmung aufkommt.
Doch auch die angrenzende Wohnbebauung erinnert mich mit den vielen Spielstraßen an das Hamburger Umland. Bei den Neubauten dominieren Einfamilienhäuser mit hübschen Gärten davor. In der Nachbarschaft rund um die kleinen Straßen, die gern „Hövel“ im Namen tragen, was auf Niederdeutsch so viel wie „kleine Erhöhung“ oder „Hügel“ bedeutet, erinnert nicht mehr viel an den ersten Eindruck, den die Hauptstraße anfangs vermittelt. Denn dort verfallen leider häufig die alten Häuser, die manche Anwohner*innen als das Herz des Stadtteils beschreiben.
Hügel sind ein wichtiges Merkmal von Georgswerder. Der größte von ihnen, der „Energieberg Georgswerder“ befindet sich im Osten. Zu trauriger Berühmtheit hat es diese Erhöhung in den achtziger Jahren gebracht. Die Mülldeponie, auf die über die Nachkriegsjahre viele Tonnen von Trümmern und anderen Sonderabfällen geschüttet wurde und die den Anwohner*innen als „Müllberg“ bekannt war, wurde 1979 stillgelegt. Wenige Jahre später wurde bekannt, dass die Deponie giftige Dioxine durchsickern ließ und damit auch das Grundwasser verseuchte.
Der Berg wurde daraufhin versiegelt und in den 2000er Jahren im Rahmen der internationalen Bauausstellung zum regenerativen Energieberg umgebaut. Oben auf dem Berg steht der Windpark und am Südhang findet sich eine große Fotovoltaikanlage, wo erneuerbare Energie hergestellt wird. So leistet Georgswerder einen wichtigen Beitrag, zum Klimaschutz und kann 4000 Hamburger Haushalte mit Strom versorgen. Für die Öffentlichkeit wurde der Berg 2013 geöffnet. Eine große Aussichtsplattform mit einem Skywalk rund um den Berg herum und einem atemberaubenden Ausblick, stellt die größte Attraktion von Georgswerder dar.
DIE IDYLLISCHE
LAGE LOCKT AN.
Seit Kurzem bietet auch der ansässige Fußballverein „Vorwärts Ost“ wieder mehr Angebote zur Freizeitgestaltung. In der Nähe des Wohngebiets liegt sowohl die Kita Deichpiraten als auch das alte Schulgebäude. Hier im Altbau sind seit zehn Jahren verschiedene Künstler*innen in Ateliers ansässig, die das Gebäude vor dem Abriss bewahrt und dort den Verein „Künstlerhaus Georgswerder“ gegründet haben. Mittlerweile steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Im neueren Teil des Hauses findet Schulbetrieb der Elbinselschule statt, die an zwei Standorten vertreten ist, wobei im grünen Georgswerder mit der Nähe zum Wasser passenderweise das Profil Natur und Umwelt angesiedelt ist.
Nur einen Katzensprung von der Schule entfernt, direkt hinter dem großen Sportplatz, befindet sich die Dove Elbe. Hier erinnert nun wirklich nichts mehr an Großstadt, denn die Wege am Ufer sind nur zu Fuß oder mit dem Rad zu erkunden. Malerisch liegt dort der kleine Hafen des Motor-Yacht-Club-Dove-Elbe-Wilhelmsburg e.V., an den Rändern gründeln zwischen den Seerosen die Enten. Die Dove Elbe säumt ganz Georgswerder nach Westen hin. Die idyllische Lage lockt an! Immer wieder sehe ich Aushänge wie „Haus gesucht“ an den Laternen. Kein Wunder, denn hier gibt es schöne Grundstücke direkt am Wasser, wo die Kanus schon bereit liegen. Freund*innen des Wassersports können hier voll auf ihre Kosten kommen!
Ich habe Georgswerder also unterschätzt! Das passiert sicher einigen, schließlich gibt es hier leider keinerlei Nahversorgung, bis auf ein paar kleine Kioske, wie mir auch das Team des einzigen Restaurants „Kupferkrug“ berichtet. Es könnte mehr getan werden, schließlich gab es früher mal einen Supermarkt, eine Post und sogar einen Schuster, so erzählen mir die Alteingesessenen. In den vierziger und fünfziger Jahren war hier sogar noch mehr los! Am Wochenende konnte man in die Diskothek gehen und sogar ein Kino gab es früher in Georgswerder und in fast jedem Haus befand sich ein Gewerbebetrieb, wovon die großen Schaufenster einiger Häuser noch heute zeugen.
Doch auch die IBA hat in den Augen der Anwohner*innen leider noch keinen so großen Ausschlag gegeben, wie zuerst erhofft, denn die Veränderungen im Stadtteil gehen schleppend voran. Erst wenige Ideen aus dem von der IBA erstellten „Zukunftsbild Georgswerder 2025“ wurden bis heute überhaupt angegangen und die Umsetzung liegt mittlerweile auch nicht mehr bei der IBA. Erst jetzt im Jahr 2020 beginnt die Bebauung der Kirchenwiese. Dort wo vor einigen Jahren noch Kühe grasten, soll ein weiteres Wohngebiet im Stadtteil entstehen und vielleicht auch die Ansiedelung von Läden wieder möglich werden. Dazu wünscht sich die Anwohnerschaft, dass das Neubaugebiet den Rest des Stadtteils klug ergänzt, den dörflichen Charakter beibehält und keinesfalls isoliert davon entsteht.
Um ein prüfendes Auge auch auf die geplanten Baumaßnahmen zu haben, trifft sich regelmäßig der Arbeitskreis Georgswerder. Hier haben sich engagierte Anwohner*innen, von denen Georgswerder eine ganze Menge hat, zusammengetan, um ihre Wünsche wie die Verschönerung des Ortseingangs, die Beseitigung von Müll oder die Gestaltung eines Dorfplatzes zu formulieren und für deren Durchsetzung einzustehen.
Ich habe bei meinem Spaziergang den Eindruck gewonnen, dass der Stadtteil sicherlich noch etwas Aufmerksamkeit von der Stadt vertragen könnte, um Missstände zu beseitigen und den Anwohner*innen noch mehr Lebensqualität zu geben. Georgswerder bringt aber auch schon unglaublich viel Potenzial mit aufgrund des dörflichen Charakters und der gleichzeitigen Nähe zur Stadt. Die von den Bewohner*innen viel gepriesene Ruhe im Stadtteil und die viele Natur, sind in Georgswerder noch präsenter als auf der Veddel oder im Reiherstiegviertel. Und dank des Einsatzes der Anwohnerschaft, bin ich guter Dinge, dass die Entwicklung des Stadtteils in die richtige Richtung gehen wird.
Mein Elbinselwissen ist jetzt bereits um viele sehr schöne Ecken erweitert, die ich sicher bald wieder besuchen werde.