Die RIALTO Lichtspiele: Es war einmal …
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Als ich 2013 an einem sonnigen Nachmittag den Vogelhüttendeich hinab ging, bremste mich etwas abrupt ab. Etwas zog in meine Nase. Es kam aus dem dreckigen, gekachelten Gebäude, vor dem ich zum stehen kam. Ein intensiver Geruch strömte aus dem Eingang und hüllte mich ein. Er teleportierte mich sofort in eine andere Zeit. Über vierzig Jahre in die Vergangenheit. In eine Zeit in Schwarz und Weiß. In die Zeit, in der Multiplexe noch Lichtspielhäuser waren, in denen geraucht und gegessen wurde. Wo man sich schick gemacht hatte wie für einen Besuch im Theater.
Der Geruch war alt, fast ein wenig muffig und doch so vertraut.
Er kam aus der Zeit der Platzanweiser und klappbaren Cordsitzen mit Ablage und kleinen Lämpchen. Er verbindet mich mit meinem ersten Abenteuerfilm in einem Filmpalast an einem anderen Ort. „Big Boy – Der aus dem Dschungel kam“. Hab ich nie vergessen. Ich war so klein, dass wir Kinder zu zweit auf einem Platz sitzen mussten, damit der Sitz nicht wieder hoch klappte. All diese Erinnerungen dauerten nur eine Sekunde. „RIALTO Lichtspiele“, schrieb die Leuchtreklame an die Wand über den Schaukästen.
Ich war neugierig. Ich ging hinein. Ich musste einfach. Der Geruch wurde intensiver, es war schummrig. Ich sah erst nur die alten Filmplakate – Bond – Connery – Originale. Alle hingen sie in ihren Glaskästen als würde morgen ein neuer Film starten. Vergilbt waren sie, genau wie die Jutetapete aus den 50er Jahren. Der Stuck an der Decke bröckelte erheblich, und auch der Putz an den Wänden hatte seine beste Zeit gesehen. Ein Kiosk, mit Auslagen aus Glas, zum Verkauf von Eis und Naschsachen kam ins Licht. Dann das alte Kassenhäuschen. Winzig, mit einen Bullauge im Glas und einer Geldrutsche aus Messing. Innen stand das kleine Gerät aus dem man die Karten bekam, sichtlich gealtert.
Der Geruch hüllte mich ein. Ich ging weiter durch den schummrigen Vorraum in den Kinosaal. Das haute mich dann doch nochmal um. Ich konnte die Vergangenheit förmlich spüren. Dem kleinen Kinokind in mir blieb nur noch zu grinsen und sich zu setzen. Auf einen fast antiken Cordsitz mit Blick auf die zerschlissene Leinwand und dem verstaubten roten Vorhang. Ich atmete tief ein und sog die alte Zeit in mich auf. Hier möchte ich bleiben. Noch einmal in meine Jugendjahre schlüpfen. Was ich dann auch tat. Für 180 Tage. Einen Sommer lang.
Die RIALTO Lichtspiele waren nur eines von acht (jawohl acht!) Kinos, die hier auf der Insel Filme zeigten. So gab es unter anderem die Filmburg und das Monopol, welches das Größte war, in der Veringstraße. Oder auch das Astoria in der Fährstraße. Doch das einzige Kino, das 100 Jahre standgehalten hatte, waren die „RIALTO Lichtspiele“, die als „alte Dame“ bezeichnet wurde. Eröffnet wurde das Haus im Jahre 1913, als Theater mit Platz für knapp 300 Zuschauer. Zu der Zeit noch „Reiher Theater“ genannt. Ab 1921 wurden dort dann auch zusätzlich die ersten Stummfilme aufgeführt. In den 50ern stellte das RIALTO als eines der ersten Lichtspielhäuser auf das damals revolutionäre Cinemascope Format um. Dann, mit dem allgemeinem Kinosterben in den 80er Jahren, musste auch das RIALTO langsam den letzten Vorhang zuziehen. Fast 30 Jahre später wurde das RIALTO wieder erweckt, und ich stolperte mitten in die Renovierung hinein.
Beim Öffnen des Verschlages an der Häuserfront, so erzählte man mir, hätte man das Gefühl gehabt, als öffne man eine verschollene Gruft. Das Licht der Sonne fiel in Streifen in den Innenraum und gab preis, was Jahrzehnte nicht berührt wurde. Alles war so geblieben, wie der Vorbesitzer es vor Jahrzehnten verlassen hatte. Die Tür dicht gemacht. Abgeschlossen. Vergessen. Wie erstarrt lagen die Stapel von Filmrollen und Plakaten verstreut herum. Die alten Klappsitze aus Cord in Erwartung neuer Gäste aufgereiht, umrahmt von zig Brandlöchern der Kippen, die hier geraucht wurden. Der rote Vorhang hing noch vor der Leinwand, und die Beleuchtung hüllte alles in ein diffuses Licht. Im Vorführraum standen die alte Projektoren und Telleranlagen zum Abspielen der Filmrollen. Alles sah aus, als ob es gleich weiter gehen könnte. Und über all dem lag eine feine Schicht von Staub aus dreißig Jahren.
Die Auferstehung nach so langer Zeit wurde möglich gemacht, weil sich viele Kinobegeisterte zusammen schlossen, um diese alte Dame für einen Sommer lang wieder zum Leben zu erwecken. Jede Menge an freiwilligen Helfern brachte das Lichtspielhaus wieder zu neuem Glanz. Über 150 Mitwirkende, Kino-Crew und Bauhelfer, Dachdecker, Statiker und Elektriker, sowie viele Hände zum Streichen und zum Reinigen der alten Inneneinrichtung trafen sich in dem Gebäude und gaben ihr Bestes. Auch dieses Mal wurde wieder die neueste Kinotechnik verbaut. Der Surround-Sound, der öfters mal die Nachbarn herbei holte. Eine mobile Bühne für die vielen Veranstaltungen. Und natürlich das Herzstück des Ganzen, ein digitaler Filmprojektor, der auch die neuesten 3D-Filme auf die Leinwand bringen konnte. Wenn auch nur als Leihgabe für die 180 Tage Kultursommer. Es war eine geniale Kombination aus Vergangenheit und Zukunft, die in dem Saal zusammen geführt wurde.
Während dieser Tage im Sommer zeigten die „RIALTO Lichtpiele“ über 300 Veranstaltungen. Darunter Lesungen, Konzerte, Theater und natürlich die verschiedensten Filme. Kult- und Kunstfilme. Filme in Schwarz-Weiß. Dokumentationen und 3D-Action. Nicht selten war der Saal ausverkauft bis auf den letzten Platz. Für mich persönlich waren die Stummfilme mit Live-Musik die echten Highlights. Dann natürlich die Filme aus der Region. Bei den Aufführungen von Nordsee ist Mordsee, Rocker, vom Kiez zum Kap oder die wilde 13 waren Darsteller und Regisseure anwesend und beantworteten Fragen. Erzählten Geschichten. Nicht selten standen die Gäste für ein Ticket ein gutes Stück den Vogelhüttendeich herunter an der Kasse an. Da wurden dann auch noch nachts spontane Vorführungen gegeben, weil zu viele Gäste die Filme in diesem Theater sehen wollten. Wo auch sonst. Ein Großteil der hier gezeigten Aufführungen würden es wohl nie wieder in ein Kino schaffen.
Man kam sich nahe, unterhielt sich oft mit den Gästen über ihren Erlebnisse und Erinnerungen. Ein Julian aus Braunschweig kam extra nach Wilhelmsburg, um „2001 – Odyssee im Weltraum“ zu sehen. Nicht wenig Ehepaare erzählten von ihrem ersten Kuss in der letzten Reihe. Erzählten von dem Tag, als das Hochwasser langsam in das Kino schwappte und sie fliehen mussten. David Sedaris schlug vor, das Kino Stein für Stein nach China zu exportieren. Felix Meyer spielte vor ausverkauftem Haus sein Lied „Hinterhofkino“. Es passte noch nie so wie in diesem Haus. Touristen aus England und Kanada schauten vorbei und ließen sich die Geschichte des RIALTO erzählen. Der Zoll schaute rein und wollte wissen, „was denn hier so abginge. Es liefen immer so viele Menschen ein und aus“. Kindergarten-Kino, das „Erste Mal“ mit Jim Knopf war atemberaubend mit anzusehen. Einfach zu viele Geschichten, um sie alle hier aufzuschreiben.
Jede schöne Zeit geht zu Ende. So auch der letzte Sommer des RILATO. Eine letzte große Feier mit Freunden und Gästen. Als Abschlussfilm „Die Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann. Der Abspann läuft. Das Licht geht ein letztes Mal an im dem alten Saal, der noch einmal so viel gesehen hatte. Die Stimmung ist herzzerreißend. Man verabschiedet sich. Man sieht sich. In Wilhelmsburg eben.
Ich hole noch ein letztes Mal tief Luft und halte den Atem an. Schlaf gut, alte Dame. Ich werde dich vermissen. Das Licht geht aus! Die Tür schließt sich! Das war´s.
Epilog
Die Zeit zieht ins Land. Alles was im RIALTO innen noch zu gebrauchen war, wurde bei einer Tombola verlost. Sitze, Lampen und all das Zeugs was man vielleicht gerne zu Hause hätte. Die gekachelte Fassade der Lichtspiele wurde mit einer Bretterwand verhüllt. Viele Künstler nutzten die große Fläche um ihre Werke darauf zu präsentieren. Ein Graffito löste das Nächste ab. Manches mal sogar im Wochentakt. Teilweise waren diese Kunstwerke von extrem brillanter Qualität. Jedes Mal wenn ich an dem Gebäude vorbei ging gab es einen Flashback. Ich blieb kurz stehen, musste lächeln und ging weiter.
Und dann, irgendwann musste es einfach passieren, der Abriss. Jetzt, vier Jahre später war es soweit. Die Bagger kamen und brachten das Gebäude zum Einsturz. Eine Lücke ist entstanden. Wie mir der neue Besitzer erklärte wird das neue Gebäude im Sommer 2019 fertig gestellt. Für die „Genossenschaft für solidarisches Wohnen e.G.“ entsteht dort ein Mehrfamilienhaus. Im Erdgeschoss eine Kulturetage.
Vielleicht werden dort ja dann auch Filme gezeigt …
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Fotos wurden zur Verfügung gestellt von „RIALTO Lichtspiele“ und Klaus Siemers.