Wilhelmsburg. Seit einigen Jahren arbeite ich im Büro eines Hamburger Programmkinos, was mir einen Alltag mit viel Filmgenuss beschert. Zu meinen Lieblingsgenres gehören „Coming of Age Filme“, also solche Filme, in denen Jugendliche Heldinnen vor den grundlegenden Fragen des Erwachsenwerdens stehen. Schon seit meiner Jugend begeistern mich Geschichten über das Heranwachsen und auch als Erwachsene kann ich der vielfältigen Thematik noch viel abgewinnen. Neben unterhaltsamen Komödien wie „Juno“ mit der von mir heiß geliebten Ellen Page oder amerikanischen Klassikern wie „Die Reifeprüfung“ mit Dustin Hofmann, bieten auch deutsche Adaptionen des Themas ein spannendes Feld. Generell bin ich eine treue Freundin des deutschen Kinos. Ich mag die häufig ernsthafte Art des Erzählens und es gibt eine Menge guter Schauspielerinnen in diesem Land, denen ich gerne zuschaue.
Es wurde also höchste Zeit, dass ich mich einmal in meiner Nachbarschaft umschaue und ins Auge fasse, ob und wenn wo unsere schönen Elbinseln bereits große Auftritte im Kino hatten. Sofort ist mir da ein Film eingefallen, der bereits seinen vierzigsten Geburtstag hinter sich hat: Nordsee ist Mordsee von Hark Bohm. Der 1976 erschienene Film ist zu großen Teilen in Wilhelmsburg gedreht worden und malt nicht nur ein Bild der damaligen Gesellschaft, sondern enthält auch viele Aufnahmen, die einen schönen Blick in die Vergangenheit des Viertels ermöglichen. Er erzählt die Geschichte des 14-jährigen Uwe, dessen Vater zu viel trinkt und ihn und seine Mutter regelmäßig verprügelt. Als Anführer eine Jugendbande baut er seinen Frust auf der Straße ab, knackt Spielautomaten und schikaniert andere Kinder. Unter seinen Opfern ist auch Dschingis, sein asiatischer Nachbar, der sich selbstständig ein Segelfloß baut.
Das hat Uwe beobachtet und aus Boshaftigkeit das Floß zerstört. Als Dschingis am nächsten Tag entdeckt, dass seine ganze Arbeit dahin ist, taucht Uwe samt seiner Bande auf und verhöhnt ihn, worauf ein Zweikampf zwischen den beiden Jungen entbrennt, den Dschingis für sich entscheidet. Dschingis zwingt Uwe daraufhin, sein Floß wieder instand zu setzen.
Um sein Ansehen bei seiner Gruppe wieder herzustellen, entwendet Uwe ein Auto und wird schließlich von der Polizei bei seinem Vater abgegeben, der seinen Sohn deshalb so heftig verprügelt, dass dieser am nächsten Tag nicht zur Schule gehen kann. Uwe bittet Dschingis, ihn zu entschuldigen und die beiden nähern sich an. Dschingis, dem bei seiner alleinerziehenden Mutter keine Gefahr droht, bietet Uwe bei sich einen sicheren Unterschlupf an. Als seine Mutter dies jedoch verbietet, beschließen die beiden Jungen gemeinsam abzuhauen und segeln auf Dschingis Floß los in Richtung Nordsee.
Unterhält man sich mit älteren Bewohnerinnen der Elbinseln, ist den Meisten klar, dass ihre Heimat bereits deutschlandweit im Kino zu sehen war. Doch fragt man jüngere Menschen, die hier leben, so ist für sie oft neu, dass einige Orte an denen Sie täglich vorbeikommen, Drehorte eines Kinofilms waren. Ich habe mich also aufgemacht und geschaut, welche Plätze, an denen der Film entstanden ist, auch heute noch bestehen. Der Beginn des Films spielt im Bereich rund um den Wilhelmsburger Bahnhof.
Auf dem heutigen Berta-Kröger-Platz, der damals nur eine große Rasenfläche war, versucht Uwes Gang Dschingis das Fahrrad zu entwenden. Der Platz hat sich über die Jahre gewaltig verändert, aber der Edeka, in dem Uwes Mutter arbeitet muss sich hier hinter den Glasfronten, in dem jetzt das Büro der Saga ist, befunden haben. Nebenan, in dem Bereich des Restaurants Schweinske muss die Kneipe gewesen sein, in der sich Uwe mit dem Automaten knacken das Geld für sein neues Springmesser ergaunert. Vermutlich ist die Wohnung von Dschingis und seiner Mutter in dem Flachdach Hochhaus rechts der Glasfronten gewesen – zumindest kommt Dschingis mit seinem Rad aus dem Durchgang, wo sich einige Eingänge befinden.
Uwes Wohnhaus kann man genau ausmachen, es befindet sich in der Neuenfelder Straße 86 hinter der Haspa, die auch im Film schon da ist. Die Familie muss relativ hoch gewohnt haben, da es zahlreiche Aufnahmen aus den Fenstern gibt, wo man einen schönen Blick über das noch weniger bebaute Wilhelmsburg der 70er Jahre bekommt. Erstaunlich, wie allein die Hochhäuser damals standen. Die Bahnstrecke, die heute die S‑Bahn und zahlreiche Fernbahnen führt, verfügte damals noch über sehr viel weniger Gleise. Die Architektur rund um den Wilhelmsburger Bahnhof nimmt viel Raum in dem Film ein. Die Hochhäuser mit ihren markanten Aufzugschächten sieht man in vielen Einstellungen des Filmes im Hintergrund, damals noch zwischen kleineren Bäumchen, als heutzutage.
Die Algermissenstraße in Uwes Nachbarschaft, vor dem heutigen Penny Markt, ist ebenfalls ein häufiger Aufenthaltsort der Gruppe. Sie fährt Uwe in dem gestohlenen Auto herunter, dass er auf dem leicht tiefergelegten Parkplatz der Bank entwendet hat. Die Algermissenstraße erkennt man gut an ihren sechseckigen weißen Parkmarkierungen, die auch schon im Film zu sehen sind. Die Gruppe hält sich außerdem gern auf einem großen Spielplatz auf, der 1983 dem Bau der S‑Bahnstation Wilhelmsburg und der städtebaulichen Umgestaltung mit dem Busbahnhof und dem Einkaufszentrum weichen musste.
In den Einstellungen sieht man im Hintergrund jedoch die spiralförmige Kirche mit dem großen Kreuz an der Spitze. Folgt man dem Maximilian-Kolbe-Weg ein Stück hinter die Kirche, kommt man auf eine hügelige Rasenfläche, die ungefähr dem Ort des früheren Spielplatzes entsprechen muss – schließlich hatte auch er eine bergige Beschaffenheit und der Blick auf die Kirche stimmt auch mit dem Film überein. Auch heute gibt es hier noch eine Tischtennisplatte und ein Basketballfeld, was der Nutzung des Bereiches als Freizeitort entspricht.
Ein wichtiger Hauptakteur in dem Film ist der Wasserturm Groß Sand. Ihn sieht man aus vielen Winkeln über dem Geschehen heraus ragen. Sei es, wenn Uwe mit dem Fahrrad durch das Viertel fährt oder Dschingis an seinem Floß „Xanadu“ arbeitet. Jenes Wasserfahrzeug hat an den Ufern des Veringkanals seinen Stapellauf, als die beiden Jungen auf ihre abenteuerliche Fahrt aufbrechen. Die alte Veringschleuse ist heute die älteste und einzige noch handbetriebene Schleuse Hamburgs. Wahrscheinlich war dies zu Zeiten des Filmdrehs noch gängiger, denn im Film sieht man Uwe, wie er angestrengt aber versiert die Schleuse über Hebel und Zahnstangen öffnet. Auch in dieser Schlüsselszene erscheint zwischen den geöffneten Schleusentoren der Wasserturm wie ein Abschiedsgruß an die beiden, bevor sie aufbrechen. Der Drehort ist auch heute noch – nicht nur für Filmfans – einen Besuch wert und wird regelmäßig von Hamburg Touristinnen angesteuert.
Von hier schippern die beiden los, vorbei an den alten Industrieanlagen, die man von Uferpark am Reiherstieg Knie aus sieht und die (in Nicht-Pandemiezeiten) dem Dockville Festival einmal im Jahr eine einzigartige Kulisse bieten.
Uwe und Dschingis wollen ihrem alten Leben entfliehen und verlassen daher die Elbinsel auf dem Wasserweg. Der Film lässt offen, was genau am Ende ihrer Fahrt flussabwärts, auf der sie noch den Hamburger Hafen, die Gefängnisinsel Hanöfersand und das alte Land passieren, geschieht. Aber fest steht, dass die beiden ehemaligen Feinde auf der Reise zueinander gefunden haben und jetzt gemeinsam sehen wollen „wohin die Reise geht“ und wohin der Wind sie trägt, wie Udo Lindenberg, der den Soundtrack beigesteuert hat, in der Schlussszene singt, während die beiden aufs offene Meer segeln.
Es lohnt sich, den Film, den man als echten Wilhelmsburg Film beschreiben kann, einmal wieder anzusehen und auf die Suche nach bekannten Drehorten zu gehen. Für alle Bewohnerinnen der Elbinseln, die den Film bis jetzt verpasst haben, soll dies ein kleiner Anreiz sein, das Erlebnis nachzuholen. Schließlich hat „Nordsee ist Mordsee“ auch auf andere Filmemacherinnen einen großen Einfluss gehabt. Dass er Vorbild für Fatih Akins Verfilmung des Romans „Tschick“ von 2016 gewesen ist, merkt man an zahlreichen Stellen.
Schön zu wissen, dass Wilhelmsburg einen derart prägenden Fußabdruck in der deutschen Filmgeschichte hinterlassen hat!
Alice@WIP