Die Veddel und der kleine Grasbrook
Die Veddel und der kleine Grasbrook sind seit seiner Jugend sein Herzblut. WIP Redakteur Mathias Boschke schaut auf „gestern, heute, morgen“ und macht sich so seine Gedanken.
Gestern
Die Schulen auf der Veddel waren ein Zentrum der Wissens- und Kultur-Verbreitung. Nach dem 2. Weltkrieg war zunächst Stillstand: Die Mädchenschule in der Slomanstraße, wie die Immanuelkirche und viele Wohneinheiten auch, zerstört. Lehrer und Schüler waren auf das Umland ausgewichen. Der normale Schulbetrieb hatte aufgehört. Erst 1947 fand sich schrittweise eine Lösung: Die Ausgebombten schufen sich Behelfshäuser in Eigenregie und in den Schulen wurden einige Klassenräume zur Unterkunft für einige Lehrer nebst ihren Familienangehörigen umfunktioniert.
Die Folge: Es entstand eine enge Beziehung der Lehrerschaft untereinander und zu den Eltern der Schüler. Man war auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Nun begann die Zeit der Innovation. Man organisierte zum Zeitvertreib (auch mit Unterstützung der Sportvereine) Veranstaltungen und Umzüge, an die sich so manch alter Veddeler noch heute gern erinnert.
Es wurden Aufmärsche abgehalten. 1949 hatten sich einzelnen Klassen unterschiedliche Märchen-Themen ausgedacht. Mit Schminke und selbstgenähter Bekleidung für das jeweilige Thema, wie „Gestiefelter Kater“, „Frau Holle“, „Der Rattenfänger von Hameln“ und anderes mehr, marschierten die unterschiedlichen Gruppen an den vom Krieg zerstörten Gebäude der Veddel vorbei.
1951 gab es einen Umzug, bei dem die Vielfalt der unterschiedlichen Kontinente und Länder auf der Erde von den unterschiedlichen Klassen dargestellt wurde. Schminke und eigen erstellte Kostüme, in Zusammenhang mit einem Schild der Nation vorweg, erlaubten die Zuordnung. Welch ein Gaudi für Jedermann.
Wer konnte damals ahnen, dass noch nicht einmal 20 Jahre später die kulturelle Vielfalt auf der Veddel Einzug halten würde. Das Multikulti wurde ab da nicht mehr gespielt, sondern wurde sukzessive immer mehr zur Realität.
Heute
Die Arbeitslosen-Quote auf der Veddel ist fast doppelt so hoch wie Hamburgs Durchschnitt. Das durchschnittliche Einkommen liegt damit deutlich unter dem der Hamburger.
Außerdem ist die Veddel Hamburgs Stadtteil mit dem höchsten Migrationsanteil und dem höchsten Anteil an Jugendlichen (ca. 20%). Somit ist es eine große Freude, wenn man diese bunt gemischte Schülerschar gemeinsam spielen und toben sieht. Im Gegensatz zu dem Nationen-Umzug Anfang der 50er Jahre mit den geschminkten Schülern, sieht man hier heute alles im Original.
Läuft heute alles rund auf der Veddel? Das kann man wirklich nicht sagen. Es ist zwar schon viel in den Wohnungsbau auf der Veddel investiert worden, sei es durch Renovierung, Wärmeisolierung oder dem Wohnungsumbau, allerdings ist es häufig die Trägheit der Verwalter, die den Bewohnern bei Schadensmeldungen zu schaffen macht. (Wobei es natürlich solche und solche gibt).
Hinzu kommt die nicht so optimale städtische Betreuung. Mit Gehwegplatten, Beleuchtung, Laub-Beseitigung und mehr sind die Stadtteile der höheren Preisklasse besser versorgt.
Mir persönlich war, seit ich ab 2014 wieder regelmäßig auf der Veddel bin, gleich aufgefallen, in welchem desolaten Zustand die Holzfenster der ehemaligen Polizei-Kaserne „Am Zollhafen“ sind.
Besser geworden sind sie in der Zwischenzeit auf keinen Fall. Und billiger wird die Beseitigung des Schadens ebenfalls nicht, je mehr Zeit man verstreichen lässt. Man spekuliert seit Jahren auf den Einbau von Kunststofffenstern. Es können jetzt schon Wetten abgeschlossen werden, wie lange das Ringen mit dem Denkmalschutz noch dauern wird.
Bewohner der Dachwohnungen hatten vor einigen Jahren schon feuchte Wände mit Schimmelbildung gemeldet. Vor ca. einem Jahr sind, bis auf eine Partie, die Dachbewohner in Alternativ Wohnungen umgezogen. Die maroden Dachwohnungen wurden verschlossen und bis jetzt in Ruhe gelassen.
Nicht nur mit Verwaltern hat man auf der Veddel zu kämpfen. Gott sei Dank gibt es behördlicherseits ja noch die Amtsschimmel, die dafür sorgen, dass es in diesem Stadtteil nicht zu langweilig wird, wie der folgende Vorfall beweist: Der alte Pavillon im Garten der Veddeler AWO, bestehend aus Tuch und Plastik war innerhalb von 4 Jahren durch Wind und Wetter und durch herabfallende Äste (der Bezirk ist für den Baumschnitt zuständig) in einem sehr desolaten Zustand. Ohne einen überdachten Platz ist der Garten (übrigens seit über 20 Jahren unter der AWO zugehörig) für Senioren nicht nutzbar.
Über den Stadtteilbeirat hatte Uli Zuper (Leiter der Veddeler AWO und Nachfolger von Frau Klauke) einen Antrag auf Fördermittel für einen neuen, stabileren Pavillon mit Geldern aus dem Verfügungsfonds gestellt. Leider wollte der Veddeler Stadtteilbeiratvorsitzende nun wissen, ob seitens der Behörde begründete Einwände gegen das erneute Aufstellen eines Pavillons bestehen könnten.
Daraufhin schrieb Uli Zuper an die zuständige Behörde, dass für den maroden Pavillon ein Ersatz in Aussicht bestehe, der durch Fördergelder und Spenden (SAGA und AURUBIS) finanziert werden würde. Er legte den Plan für die Bauausführung, nebst Material und Kostenaufwand aus dem „Haus der Projekte“ (Mügge), anbei.
Diese wohlgemeinte (die Bürokratie entlastende) Eigeninitiative passte der Dame vom Amt nun wohl überhaupt nicht und tat ihrerseits kund, dass der am Gebäude angrenzende Garten überhaupt nicht von der AWO genutzt werden dürfe, da er zum benachbarten Kinder Spielhaus gehöre, was jedoch der Leiterin vollkommen fremd war, wie sie bestätigte.
Nach heftigem, aber nicht zu einem „Pavillon Positiv“ führendem Briefwechsel sah Uli Zuper sich gezwungen, das Vorhaben zunächst abzublasen mit entsprechender Info an alle Beteiligten.
Nun stellt sich mir persönlich die Frage, in welcher Konstellation will man die heutige Veddel mit den geplanten Neubaugebieten „Veddel-Nord“ und „Kleiner Grasbrook“ in Zukunft denn vereinigen? Bekommen die neuen Gebiete dann bessere Verwalter und wird dann nur noch junges, dynamisches Behörden Personal auf die neuen Bewohner losgelassen?
Mit solchen läppischen Fragen beschäftigt man sich natürlich nicht bei den in die Zukunft blickenden Stadtplanern. Passt ja auch so gar nicht zu den Glanzbroschüren.
Morgen
Die Werkstatt Veranstaltungen zum „Kleinem Grasbrook“ und „Veddel-Nord“ waren recht positiv aufgenommen worden. Erstaunlich war die Fülle an Präsentationen und deren raschen Folge.
Externe Stadt- und Landschaftsplaner hatten ihre Vorschläge zur Neugestaltung eingereicht und dem Publikum vorgestellt.
Leider hatte man bei den Präsentationen die Integration mit dem Veddel-Nord Gebiet nicht so im Focus, obwohl im „Wettbewerblichen Dialog Stadtteil Grasbrook, Teil A“ die Rede ist von: „… sozialkulturelle und nahversorgungsrelevante Einrichtungen als Treffpunkte für die Bewohner des Grasbrook und der Veddel …“
Meiner Meinung nach wurde den Ausgelobten (Stadtplaner und Gartenarchitekten) zu viel zugemutet in der zur Verfügung stehenden kurzen Zeit. Allein das Lesen und Verinnerlichen des „Testplanungsverfahren Stadteingang Elbbrücken“, der „Dokumentation der Beteiligung in Vorbereitung des Wettbewerblichen Dialogs“ und die „Auslobung Wettbewerblicher Dialog“ ist weitaus mehr, als ein abendfüllendes Programm.
Doch was rege ich mich da auf? Die Vollendung dieser ganzen schönen Stadtteil Neubauten werde ich mit Sicherheit nicht mehr erleben können. Aber träumen darf man ja wohl noch und so muss ich unbedingt von meinem letzten Traum berichten:
Wir haben das Jahr 2040. Das von mir in 2018 angedachte „Pilot-Projekt Veddel“, „Grundeinkommen für alle“ wird von der EU gefördert. Für den Großteil der Veddeler besteht der Monat nicht nur mehr aus der ersten Woche, nein, auch in den darauffolgenden Wochen ist noch etwas Geld übriggeblieben.
Vor der Freifläche der Ballinstadt haben sich riesige Gruppen in unterschiedlichen Trachten eingefunden. Einer aus der Gruppe hält eine Fahne hoch, die Fahne ihres Ursprunglandes. Aber warum denn der Auflauf vor der Ballinstadt?
Zur Feier des Tages, der Eröffnung des Zusammenschlusses von „Veddel, Veddel-Nord und „Kleiner Grasbrook“ sind die Veddeler die Hauptattraktion. Alle Honorigen der Stadt und der Partnerstädte erwarten den großen „Zug der Internationalitäten“.
Der Zug setzt sich in Bewegung. Vorweg eine internationale Wahnsinnsband mit Trommeln, Pfeifen und Trompeten. Sie lassen die alte Elbinsel in ihren Grundmauern erzittern. Den gesamten Zug verbindet der „Weltschal“, der bereits 2018 das Hamburger Rathaus schmücken durfte. Wie jeder weiß, ist er auf der Veddel von türkischen Frauen aus dem Modehaus „Made auf Veddel“ gestrickt, gehäkelt und genäht worden.
Engel und Kopf bitte ausschneiden. NUR den Engel als Freisteller benutzten.
Der gesamte Zug passiert die neuen Gebäude von Veddel-Nord und unterquert die Eisenbahntrasse und die neue Ladenzeile. An einer Stelle kommt er ins Stocken. Warum? Jungen, Mädchen und Frauen wollen sich unbedingt anschauen, was der „Laden für exotische Brautkleider“ so alles zu bieten hat. Der war nämlich gerade rechtzeitig zum Fest eröffnet worden.
Mahnende Worte der Männer bringen wieder Schwung und so schafft es der Tross, die neuen Parkanlagen und Gebäude des Kleinen Grasbrook zu passieren. Bewundert wird im Vorbeigehen die neue Schwimm- und Badespaß-Halle mit dem Freischwimmer-Ponton in der Elbe. Von diesem Wunderwerk, welches an gleicher Stelle liegt wie früher das Elbe-Freibad der „Großen Veddel“, hat bereits die gesamte Stadt erfahren und damit die Prognose von Oberbaudirektor Höing bestätigt: „Diese Anlage ist ein „Transmissionsriemen“ für die ganze Stadt!“ Übrigens, von den 160.000 Badegästen im alten Elbebad musste niemand auch nur einen Groschen Eintritt zahlen.
Der Zug marschiert weiter, macht kehrt vor dem Viermaster „Peking“, zum Deutschen Hafenmuseum gehörend, An deren Seite ist der kupferne, chinesische Drachen verankert. Der Drachen war ursprünglich für die Shanghai-Hamburger Freundschaftstage von dem Künstler Adam Ostrowski gebaut worden. Nun muss er nicht mehr ein tristes Dasein hinter den Mauern von AURUBIS führen, die den Drachenbau gesponsert hatte.
Weiter schlängelt sich der Zug an der Jugend-Marina mit seinen Veddeler Jollen (einer Spezial-Anfertigung) im Moldau Hafen vorbei und an der Ruderclub Anlage von Hamburgs einzigem Wanderruderclub „Wikinger“.
Entlang der Terrassen am Moldauhafen geht es wieder zurück durch die Einkaufspassage unter den Gleisen. Nun trödelt das junge Volk ein wenig, weil es sich die Nasen platt drückt zwei Aquarien: Das eines beinhaltet Fische aus der Elbe (inkl. der seit 100 Jahren wieder entdeckte Seeforelle), das andere Fische der Nordsee). In dem Terrarium dazwischen sind elbtypische Pflanzen zu bewundern, inkl, der beiden endemischen, die es weltweit nur hier an der Elbe gibt.
Nach Durchqueren der Ladenpassage hat man den Abenteuerspielplatz im Blick mit Dampflok, Straßenbahn, Lastwagen und Hafenschlepper. Von dem alles überbrückenden kreisförmigen Veddeler Sky-Walk sprudeln parallele Wasserfälle, weil gerade ein paar Leute heftig in die Pedale der Trimmräder treten, die die Pumpen befeuern. Das Wasser wird aus dem Plantsch- und Matsch-Teich mit körperlicher Kraft nach oben befördert.
Der Zug bewegt sich weiter in Richtung Veddeler Marktkanal, wo man das aus Containern aufgebaute Start-Up-Dorf bewundern kann. Man umrundet einen im Kanal schwimmenden Ponton, an dem Schuten fest vertäut sind. Diese sind schon ausgebaut oder werden es noch für kulturelle Zwecke. Auf dem Rückweg geht es schnurstracks in den Multi-Gastronomie-Palast am Elbdeich zwischen den Elbbrücken, wo für das leibliche Wohl aller gesorgt wird.
Ich schaue mir das Ganze von Wolke 7 aus an, frohlocke, bekomme mit, wie meine Enkel, die mit dem Tross gezogen sind, jedem berichten, der es hören will oder auch nicht, dass ihr Opa früher einmal auf der Veddel gelebt hat.
Und ich bin ganz stolz, ein Teil der Veddeler Geschichte gewesen zu sein. Aus einem der Gesellschaftsäle vom Multi-Gastronomie-Palast schallt bereits exotische Musik; eine Multi-Kulti-Hochzeitfeier ist in vollem Gange. Zu später Stunde brechen sich dann die Lichter der illuminierten Brückenkonstruktionen in den Wellen des gemächlich vorbeiziehenden Elbe-Urstromes, eines der letzten von ganz Europa.
Ich wache hustend, prustend auf, weil ich mich an einem Traum Trunk verschluckt habe.